« Home | The case against rebuilding the sunken city of New... » | Do the Right Thing » | Ebay stoppt Stimmenverkäufe » | Sempron vs. Celeron » | Google Guide » | Sound » | God Admits Responsibility For Hurricane Katrina » | Kommentar zu torrents » | World War I (video game) - Uncyclopedia » | Ausgetrickste Wahrnehmung - Change Blindness »

Fast-Food-Kette im Schweizerhaus

Moderne Sagen. Was ist dran an den Geschichten, die in Wien immer wieder die Runde machen?

Wien. Der Karlsplatz wird in Nike-Platz umbenannt. Das Schweizerhaus wird an McDonald's verkauft. Und in der U1-Station Stephansplatz gibt es einen riesigen Rattenfriedhof. Diese und andere skurrile Geschichten, die immer wieder in Wien die Runde machen, haben eines gemeinsam: Sie sind nicht wahr und lassen sich alle unter dem Begriff "moderne Sagen" zusammenfassen.

"Die moderne Sage ist neben dem Witz die letzte Bastion der oralen Kultur", erklärt die Erzählforscherin Christa Tuczay. Verschiedene skurrile Begebenheiten werden unter Freunden und Bekannten weitergegeben, der Wahrheitsgehalt ist selten überprüfbar. Ein typisches Erkennungszeichen ist, dass die Geschichte "dem Freund eines Freundes" tatsächlich passiert sein soll. Bei genauerer Nachfrage lässt sich jene Person jedoch in der Regel nicht finden. Üblicherweise sind solche Geschichten auch nicht an bestimmte Orte gebunden, sondern tauchen in verschiedenen Varianten rund um die Welt auf.

Einige der modernen Sagen lassen sich allerdings tatsächlich an konkreten Orten festmachen. Und auch Wien hat seine eigenen Großstadtmythen. So ist seit einigen Jahren immer wieder zu hören, dass der Karlsplatz in Nike-Platz umbenannt werden soll. Der Ursprung dieser Geschichte liegt im Jahr 2003. Auf der Website www.nikeground.com wurde das Projekt vorgestellt. Neben der Umbenennung sollte auch mitten am Platz das Logo des Sportartikelherstellers 36 Meter lang und 18 Meter hoch aufgestellt werden. Eine Bürgerinitiative lief damals Sturm, sowohl Stadt Wien als auch der Konzern selbst bezeichneten die Pläne umgehend als Fälschung. Der simple Hintergrund der Legende ist, dass es sich um eine Aktion einer italienischen Künstlergruppe handelte, die mit derartigen Aktionen provozieren möchte.

Dass eine solche Geschichte in der Bevölkerung tatsächlich für möglich gehalten wird, hat laut Christa Tuczay einen kulturellen Hintergrund: "Es ist die unterschwellige Angst, von amerikanischen Konzernen vereinnahmt zu werden", so die Wissenschaftlerin. Ein weiteres Beispiel, das diesem Muster entspricht, ist die regelmäßig auftauchende Behauptung, dass das Schweizerhaus im Prater an McDonald's verkauft wird. "Absoluter Schwachsinn", meint Schweizerhaus-Chef Karl J. Kolarik, "das Gerücht gibt es seit 30 Jahren, aber es ist nichts dran." Es habe von der Fast Food-Kette niemals eine diesbezügliche Anfrage gegeben, und es wurden niemals Gespräche darüber geführt. "Es wäre absolute Geldvernichtung, ein Lokal, das funktioniert und von den Wienern geliebt wird, einfach aufzugeben." Also gilt hier auch in Zukunft Stelze und Bier statt Burger und Cola. Ein beliebtes Terrain für Legenden sind auch Technologien, die in Menschen Ängste wecken, etwa die U-Bahn. Seit Jahren herrscht in der U1-Station Stephansplatz bei warmen Temperaturen ein fauliger Gestank. Gerüchte über den Ursprung gab es viele. Da war die Rede vom "Rattenfriedhof", einem Obdachlosen, der neben einem Heizaggregat verstorben und durch die Hitze verwest sei aber auch von versehentlich eingemauerten Bauarbeitern. Für Tuczay ist letzteres ein bekanntes Motiv. "Früher wurden bei der Errichtung von Gebäuden oft kleine Tiere eingemauert. Dieses Bauopfer sollte den Bestand des Gebäudes sichern." Der Hintergrund des Gestanks ist viel banaler. "Weil der Boden am Stephansplatz sandig ist", so Wiener Linien-Sprecher Johann Ehrengruber, "wurde beim Bau der U-Bahn ein biologisches Bindemittel verwendet." Steigt das Grundwasser, reagiert das Mittel mit Wasser und beginnt zu stinken. Von Leichen also keine Spur.

Keine Spur gibt es auch von jenen Dieben, die am 11. Mai 2003 die Saliera, ein wertvolles Salzfass, aus dem Kunsthistorischen Museum entwendeten. Um diesen spektakulären Diebstahl rankt sich auch eine Legende. Denn kurz nach dem Raub um 3.55 Uhr, so wird gemunkelt, soll es ein Sonderpostamt im Museum gegeben haben, das 750 Stück der Saliera-Briefmarke (Ausgabe: 22.3.1971) mit einem Sonderstempel versah - mit der Uhrzeit 4 Uhr. Als Beleg wird ein gestempeltes Exemplar eines Sammlers angeführt. "Wie hinter jedem Märchen steckt auch hier ein Körnchen Wahrheit drin", so Post-Sprecher Michael Homola. Anlässlich des Diebstahls gab die Post Restbestände der Marke heraus - mit dem Sonderstempel, auf dem die Tatzeit verzeichnet war. Das Sonderpostamt im Museum sei jedoch pure Erfindung.

Dass derartige Geschichten auch weiterhin entstehen und weiterverbreitet werden, ist nahe liegend. Und abgesehen vom zweifellos vorhandenen Unterhaltungswert geben sie auch einen kleinen Einblick in die Seele des Wieners. Denn moderne Sagen sind ein Spiegelbild der Menschen und ein Stück Gegenwartskultur.

VON ERICH KOCINA (Die Presse) 17.09.2005

Mehr davon: www.sagen.at

Labels: